Nietzsche als revolutionärer Denker und Innovator
Nietzsche (1844-1900) hat viele spätere Entwicklungen in der Psychologie und Philosophie eingeleitet und vorweggenommen, und wir fragen uns, ob dies vielleicht auch für neuere Entwicklungen der Evolutionslehre und Biologie allgemein gilt.
In seiner “Fröhlichen Wissenschaft”, “Götzendämmerung” und seinem “Willen zur Macht III, Der Wille zur Macht als Leben”, setzt sich Nietzsche mit dem zu seiner Zeit schnell ausbreitendem Darwinismus auseinander. An Hand einiger Zitate stellen wir Nietzsches Grundeinstellung dar, gefolgt von einer kurzen Zusammenfassung und Bewertung.
Nietzsche war sich der Epoche machenden Leistung Darwins wohl bewusst. So spricht er in der “Fröhlichen Wissenschaft” von der letzten großen wissenschaftlichen Bewegung in Europa, dem Darwinismus, und sagt, dass er den Darwinismus “übrigens für wahr halte”(Kritische Gesamtausgabe Band III, 4 – 19,132).
Der Wille zur Macht als Grundlage aller Erscheinungen und Gesetze
In “Der Wille zur Macht” führt Nietzsche aus, dass alle Bewegungen, “Erscheinungen” und “Gesetze” als Symptome eines innerlichen Geschehens aufgefasst werden müssen, die er als Willen zur Macht bezeichnet, in Analogie zu den “schöpferischen Trieben” und der “Ausübung der Macht” des Menschen. So können bei den Tieren alle Triebe aus diesem Willen zur Macht abgeleitet werden.
Definition des Lebens
Ausgehend von der zu seiner Zeit gängigen Physik der “Kraft” definiert Nietzsche das “Leben” als “eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen.”
Zitate
Die folgenden Zitate befassen sich spezifisch mit dem Darwinismus. Alle Zitate nach [1] , ausgenommen das erste (nach der Edition Gutenberg, Spiegel ) (Fettdruck von mir).
Die Fröhliche Wissenschaft
357
“Nehmen wir drittens den erstaunlichen Griff Hegels, der damit durch alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen durchgriff, als er zu lehren wagte, dass die Artbegriffe sich auseinander entwickeln: mit welchem Satze die Geister in Europa zur letzten großen wissenschaftlichen Bewegung präformiert wurden, zum Darwinismus– denn ohne Hegel kein Darwin.”
“Herkunft der Gelehrten
……. Dass unsere modernen Naturwissenschaftler sich dermassen mit dem Spinozistischen Dogma verwickelt haben (zuletzt noch und am gröbsten im Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen Lehre vom “Kampf ums Dasein”– ), das liegt wahrscheinlich an der Herkunft der meisten Naturforscher: sie gehören in dieser Hinsicht zum “Volk”, ihre Vorfahren waren arme und geringe Leute, welche die Schwierigkeiten, sich durchzuringen, allzusehr aus der Nähe kannten. Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht etwas wie englische Überbevölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leutegeruch von Not und Enge. Aber man sollte, als Naturforscher, aus seinem menschlichen Winkel herauskommen: und in der Natur herrscht nicht die Notlage, sondern der Überfluss, die Verschwendung, sogar bis ins Unsinnige. Der Kampf ums Dasein ist nur eine Ausnahme, eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und kleine Kampf dreht sich allenthalben ums Übergewicht, um Wachstum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist”.
Götzen-Dämmerung
Anti-Darwin.
“Was den berühmten “Kampf um’s Leben” betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme;
der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung, – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht … Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. – Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf – und in der Tat, er kommt vor -, so läuft er leider umgekehrt aus als die Schule Darwin’s wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, – das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch klüger … Darwin hat den Geist vergessen (- das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist … Man muss Geist nötig haben, um Geist zu bekommen, – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nötig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (- “lass fahren dahin! denkt man heute in Deutschland – das Reich muss uns doch bleiben” … ). Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten Tugend).”
Der Wille zur Macht
“Gegen den Darwinismus.
– Der Nutzen eines Organs erklärt nicht seine Entstehung, im Gegenteil! Die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im Kampf mit ässeren Umständen und Feinden. ……………. Andererseits kann ein Mangel, eine Entartung vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer Organe wirkt……. Das Individuum selbst als Kampf der Teile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Teile, an ein Verkümmern, “Organ-werden” anderer Teile.
Der Einfluss der “äusseren Umstände” ist bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozess ist gerade die ungeheuer gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche die “äusseren Umstände” ausnützt, ausbeutet. – Die von innen her gebildeten neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin geformt; aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener ausgestalten.”
“Die Individuation, vom Standpunkt der Abstammungstheorie
beurteilt, zeigt das beständige Zerfallen von eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf den Gewinn von wenigen Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergrosse Masse stirbt jedesmal ab (“als Leib”). Das Grundphänomen: unzählige Individuen geopfert um weniger willen: als deren Ermöglichung……”
“Gegen die Theorie, dass das einzelne Individuum den Vorteil der Gattung seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten des eigenen Vorteils: das ist nur Schein.
Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäusserung (natürlich nicht vom Bewustsein aus beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation).”
“Grundirrtümer der bisherigen Biologen: es handelt sich nicht um die Gattung,
sondern um stärker auszuwirkende Individuen. ….
Das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äussere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr “Äusseres” sich unterwirft und einverleibt.”
“Meine Gesamtansicht. – ……. der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt.
Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben. ……
der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt zum Vergleich zu irgendeinem andern Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren..Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander. Die reichsten und komplexesten Formen – denn mehr besagt das Wort “höherer Typus” nicht – gehen leichter zugrunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben eine kompromittierende Fruchtbarkeit für sich.. – Auch in der Menscheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art vondécadenceausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst schon beinahe schondécadents..” ………. Die Domestikation (die “Kultur”) des Menschen geht nicht tief..Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenereszens (Typus: der Christ). Der “wilde” Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur – und, in gewissem Sinne, seine Wiederherstellung, seine Heilung von der “Kultur”..”
“Anti-Darwin
Was mich beim Überblick über die grossen Schicksale des Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehn von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zugunsten der Stärkeren, Besser-Weggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen. Gesetzt, dass man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, das die Schule Darwins sich überall getäuscht hat…..”
Bewertung der Argumente Nietzsches
Nietzsche schreibt: ”
Gesetzt, dass man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, das die Schule Darwins sich überall getäuscht hat…..”. Jedoch: tatsächlich nimmt der Mensch eine Sonderstellung im Tierreich ein. Er ist, aufgrund seiner intellektuell hohen Entwicklung, die ihn weitgehend unabhängig von der Umwelt macht, den auf andere Tiere wirkenden Auslesefaktoren weitgehend nicht ausgesetzt. In der folgenden Diskussion müssen wir dies Argument daher unberücksichtigt lassen.
Wir besprechen die vier wichtigsten Punkte in Nietzsches Argumentation, 1) der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung 2) der innere Zwang (Wille zur Macht) ist der wichtigste Faktor der Evolution, 3) die Fortpflanzung dient dem Individuum aber nicht der Gattung, und 4) es gibt keinen inneren Drang zur Höherentwicklung.
1) Kampf ums Dasein (Ressourcen). Umfangreiche Untersuchungen an zahlreichen Tierpopulationen haben gezeigt, dass die meisten natürlichen Populationen niemals in so grosser Populationsdichte vorkommen, dass sie einen signifikanten Anteil der Ressourcen aufbrauchen ( [2] [3] ). Dies hat zur Folge, dass der Wettbewerb zwischen Individuen der gleichen Art oder verschiedenen Arten eine viel weniger wichtige Rolle spielt als normalerweise angenommen. Nietzsche hatte also Recht, diesen sehr wichtigen Punkt herauszustellen!
2) Mitwirkung innerer Ursachen. Der Darwinismus, d.h. die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese, hat sich seit seiner Begründung durch Darwin und Wallace in der Mitte des 19. Jahrhunderts fortentwickelt, und die Kritik Nietzsches bezieht sich auf die zu seiner Zeit gängige Form. Nietzsche las Friedrich Albert Langes “Geschichte des Materialismus” [4] in 1866, in dem auch der Darwinismus eingehend besprochen wird. Es ist daher nützlich, auf diese Quelle zurückzugehen. Wie von Lange betont, hat Darwin [5] selbst eine “Korrelation des Wachstums” anerkannt, nach der Formveränderungen sehr wohl entstehen können, selbst ohne direkt Folge des “Kampfes ums Dasein” zu sein. Nägeli und Kölliker kurz nach ihm führten dies weiter aus. Der erstere postulierte, von solchen “Entwicklungsgesetzen”ausgehend, eine “angeborene Neigung zur progressiven Entwicklung”, und der letztere meinte, dass derartige Entwicklungsgesetze unvereinbar mit dem Darwinismus seien, weil dieser ein Nützlichkeitsprinzip annehme. Lange führt jedoch aus: “Nun sind wir darin mit Kölliker durchaus einverstanden, dass positive Ursachen der Entwicklung angenommen werden müssen, welche nicht im Nützlichkeitsprinzip, sondern in der inneren Anlage der Organismen ihren Grund haben; allein neben allen diesen positiven Ursachen hat das Nützlichkeitsprinzip seinen sehr guten Sinn in Verbindung mit dem Gesetze des Kampfes ums Dasein, welches auf negativem Wege den blinden Drang des Werdens und Wachsens beherrscht und die wirklichen Formen von den nach dem “Entwicklungsgesetz” sondert.” Ferner schreibt er: “Darwin nimmt überall da, wo er sich auf die Mitwirkung innerer Ursachen geführt sieht, diese Mitwirkung so unbefangen in seine Erklärung der Naturformen auf, dass man eher annehmen kann, er habe sie als selbstverständlich betrachtet.” Lange betont, dass “innere Ursachen” nichts mit Mystik zu tun haben: ” So kann denn auch das “Entwicklungsgesetz, nach welchem die Organismen in bestimmter Stufenfolge aufsteigen, nichts andres sein, als die einheitlich gedachte Zusammenwirkung der allgemeinen Naturgesetze, um die Erscheinung der Entwicklung hervorzubringen.” …. “Das Entwicklungsgesetz gibt die möglichen Formen, die natürliche Zuchtwahl wählt aus der ungeheuren Fülle derselben die wirklichen; sie kann aber nichts hervorbringen, das nicht im Plan der Organismen enthalten ist, und das blosse Nützlichkeitsprinzip wird in der Tat ohnmächtig, wenn man von ihm eine Modifikation des Tierkörpers verlangen wollte, die gegen das Entwicklungsgesetz ist. Hierdurch wird aber Darwin nicht getroffen, da er sich an die Auswahl des Nützlichen unter den spontan hervortretenden Variationen hält…”
All dies zeigt, dass Nietzsches Argumente gegen Darwin fehlgeleitet sind. Tatsächlich nimmt auch Darwin an, dass die Evolution nicht ausschliesslich dem Nützlichkeitsprinzip unterliegt, sondern auch inneren Gesetzen folgt. Allerdings stellt Nietzsche diesen inneren Zwang viel stärker heraus als Darwin dies tut, und mit ihm viele Evolutionsforscher im 19. und 20. Jahrhundert. Neuere Untersuchungen, unter anderem von Stuart Kauffman [6] , haben die Wahrscheinlichkeit einer überragenden Bedeutung der “Selbstorganisation” gezeigt, die in weitem Masse unabhängig von der natürlichen Auslese erfolgt. Nietzsche benutzt zwar eine andere Terminologie, doch dem Inhalt nach würde er dem sicherlich zustimmen. Zusammenfassend: Stuart Kauffman und Nietzsche stimmen darin überein, dass die natürliche Zuchtwahl (Auslese) nicht der alleinige und vielleicht nicht einmal der wichtigste Faktor im Evolutionsvorgang ist, sondern dass ein “innerer” Drang (zur “Macht”, zur “Selbstorganisation”) wesentlich ist. Allerdings ist dieser Drang nicht zu verwechseln mit einem unerwiesenen Drang zur “Vervollkommnung”.
3) Der dritte wichtige Punkt in Nietzsches Argumentation ist: ”
Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den gechlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich…” Dies stimmt in der Tat überein mit der jetzt fast generell akzeptierten Annahme, dass Gene sich selbst replizieren wollen, und dass Gruppen-Selektion, die lange als ein wesentliches evolutionäres Element angesehen wurde, keine Rolle spielt [7] (vielleicht von Ausnahmen abgesehen).
4) Das Problem der Höherentwicklung und genereller der Orthogenese, d.h.der gerichteten Evolution, hat in der Diskussion der Evolutionsmechanismen immer eine grosse Rolle gespielt ( [8] ). Rensch [9] gab eine eingehende Diskussion, die zeigt, dass eine Höherentwicklung in vielen Stammesreihen tatsächlich erkennbar ist. Eine derartige “Anagenese” ist gekennzeichnet durch Zunahme der Komplikation und eine fortschreitende Rationalisierung (insbesondere auch des Nervensystems), eine Zunahme der Plastizität von Strukturen und Funktionen, und eine Zunahme der Umwelt-Unabhängigkeit und der Autonomie. Rensch schliesst, dass Anagenese durch rein quantitative Veränderungen zustande kommen kann, die häufig einen Auslesevorteil besitzen, also keinen zusätzlichen “Vervollkommnungstrieb” benötigt. “Dies entspricht der schon von Darwin geäusserten Auffassung, dass die natürliche Zuchtwahl unvermeidlich zur allmählichen Vervollkommnung vieler Stammesreihen führen müsse”. Höherentwicklung ist jedoch keinesfalls generell zu finden. Sie ist beschränkt auf Fälle, in denen entsprechende Auslesefaktoren wirksam sind, und oft gibt es sogar “Regressionen”, d.h. vereinfachende Entwicklungen zu geringerer Komplexität (siehe hierzu diesen knol : die höchste Komplexität am Anfang von Entwicklungslinien). Ferner haben in zahlreichen Biotopen (Habitaten) “primitive” Tiere wie Einzeller und Würmer überlebt und sich zu zahlreichen neuen Arten entwickelt, und selbst “höhere” Tiere sind nur nur unter speziellen Bedingungen einer Anagenese unterworden. Wichtig ist auch, dass die Mehrzahl aller Arten wahrscheinlich Parasitensind, bei denen eine “Höherentwicklung” im Sinne Renschs nicht feststellbar ist. Wir müssen also Nietzsche zustimmen: ”
Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren..Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander.” Wir müssen ihm ebenfalls darin zustimmen, dass es einen auf die Höherentwicklung gerichteten Trieb nicht gibt, der allerdings von Darwin ebenfalls nicht angenommen wurde.
Zusammenfassend
können wir also sagen, dass Nietzsches Ansichten tatsächlich in entscheidenden Punkten mit neueren Entwicklungen der Evolutionstheorie übereinstimmen: 1) der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung; 2) der Evolutionsvorgang ist nicht ausschliesslich durch natürliche Auslese (in Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen) bestimmt; 3) die Fortpflanzung dient dem Individuum und nicht der Gattung; und 4) es gibt keine generelle, durch einen inneren Vervollkommnungstrieb bedingte Höherentwicklung (worin er mit Darwin übereinstimmt).
Literatur
Friedrich Nietzsche Werke in zwei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von August Messer, Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1930.
H.G. Andrewartha and L.C. Birch. The Distribution and Abundance of Animals. University of Chicago Press, Chicago, 1954.
Klaus Rohde. Nonequilibrium Ecology. Cambridge University Press, Cambridge, 2005.
Friedrich Albert Lange. Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch. Geschichte des Materialismus seit Kant. Zweite Auflage Philip Reclam, Leipzig, 1875 (Erste Auflage 1866).
Charles Darwin. On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. John Murray, London, 1859.
Stuart A. Kauffman. The Origins of Order. Self-organization and Selection in Evolution. Oxford University Press, New York Oxford, 1993.
Richard Dawkins. The Selfish Gene. Oxford University Press, Oxford New York, 1976.
Ernst Haeckel. Generelle Morphologie der Organismen. Zwei Bände, Berlin, 1866.
Bernhard Rensch. Neuere Probleme der Abstammungslehre. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 1954.
Danksagung
Ich danke Josef Alvermann, Baden-Baden, für einige wichtige Hinweise.
Ähnliche knols und links
Für eine Kritik einiger Aspekte des Darwinismus siehe diesen knol .
Links zu anderen knols über Evolution und Ökologie hier:
http://knol.google.com/k/klaus-rohde/klaus-rohde-knols-deutsch/xk923bc3gp4/66#
Ähnliche websites hier:
http://www.pointernet.pds.hu/kissendre/nietzsche/20090109101951591000000234.html
http://www.mith.demon.co.uk/darniet.htm
Neue kritische vielbändige Nietzsche-Ausgabe
Josef Alvermann, Baden-Baden, hat mich auf diese wohl umfangreichste Ausgabe hingewiesen und mir Nietzsches sich auf Darwin und den Darwinismus beziehenden Aussagen daraus geschickt. Aus copyright-Gründen können sie hier nicht wiedergegeben werden. Interessenten können sich an mich wenden.
Anonymous
Ein wichtiger interdisziplinärer Knol, — der mir so sehr gefallen hat, dass ich mich wieder mit dem Problem beschäftigt habe: Werke über den Darwinismus füllen (wie Arbeiten über Goethe und Nietzsche) jeweils kleine Bibliotheken; und so bringt die ungeheuerliche Wirkung dieser naturwissenschaftlichen Lehre auf jedem Gebiet des Geisteslebens Schillers Spruch aus den Xenien in Erinnerung: „Wenn Könige bauen, haben die Kärrner zu tun.“ Somit enthält Nietzsches Erwähnung der vielen Kärrnerdienste zugleich ein verstecktes Lob Darwins (hierzu unten mehr.) Da die braven wissenschaftlichen Karrenschieber sich aber auf unerlaubte Gebiete wagten – je weiter, desto lieber – sogar ins Reich der Philosophie, trat bei Nietzsche zu der unbequemen Aufgabe den Karren wieder herauszuziehen, auch fröhlicher Spott hinzu. Seine übermütigen Verse „An die Jünger Darwins“ könnten aber ohne klärende Zitate beim Leser zum spontanen Widerstand führen, der ein tiefes Verständnis von Nietzsches Kritik verhindert. Die folgenden vielleicht nötigen Zitate stammen aus weit verstreuten Stellen seines Werks, aus 16 Schaffensjahren. (Bei der Suche war mir leider selbst das auf rund dreitausend Seiten angelegte ausgezeichnete Nietzsche-Wörterbuch keine Hilfe, von dem erst Band 1 erschienen ist.) In Morgenröte V, 357 steht die runde Anerkennung: „die letzte große wissenschaftliche Bewegung in Europa, der Darwinismus“ und etwas versteckt (in Vom Nutzen und Nachteil der Historie KGW III, 315; Vorstufe) der Zusatz „den ich übrigens für wahr halte.“ Zur unerlaubten Grenzüberschreitung vgl. Wille zur Macht 78, 286: „Zuletzt geht die Verwechslung so weit, dass man den Darwinismus als Philosophie betrachtet.“ Der Gipfelpunkt philosophischer Verehrung des Darwinismus durch den freigeistigen alten „Bildungsphilister“ D. F. Strauß wird bereits in Unzeitgemäße Betrachtungen KTA 71,41 lächerlich gemacht: „(Darwin) von Strauß als einer der größten Wohltäter der Menschheit gepriesen.“ (Statt dass er die Schattenseiten des Darwinismus betonte, die Nietzsche – auch hier hellsichtig – als ungeheure negative Faktoren der kommenden Jahre vorausgesehen hatte. Vgl. nur die katastrophalen Folgen aller Lehren, die sich auf den Sozialdarwinismus beriefen.) Der Anfang des Gedichts erinnert an eine Stelle Jenseits von Gut und Böse: „Der Geist achtbarer, aber mittelmäßiger Engländer, ich nenne Darwin, Mill, Spencer.“ (Anderswo sagt er über Mill: „philosophisches Geschnatter.“ Und zu Spencer: „Mit seiner Definition des Lebens als einer immer zweckmäßigeren inneren Anpassung an äußere Umstände verkennt er das Wesen des Lebens.“ Vgl. dazu oben Rohde: „Grundirrtümer der bisherigen Philosophen.“) Zuletzt zur Majestätsverletzung: Den Wissenschaftler Darwin auf eine Stufe mit Goethe zu setzen, hieß natürlich nicht nur Äpfel mit Birnen vergleichen. Dass aber nicht einmal alle Naturforscher dies spürten, die ja nicht zu den Ungebildeten zählten, ist das eigentliche Skandalon, weshalb sie nach Nietzsche den Namen wissenschaftliche Karrenschieber verdienten, denen beides fehlt, Genie und Esprit. – Fazit: Nietzsches Worte haben stets eine klare Funktion und eine präzise Bedeutung, die erschlossen werden kann – auch in einem kleinen satirischen Gedicht. (Josef Alvermann, Baden-Baden)